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Poesie - Gedichte

Es gibt Tage...

Es gibt Tage, da wünscht' ich, ich wär' mein Hund,
ich läg faul auf meinem Kissen und säh' mir mitleidig zu,
wie mich wilde Hektik packt zur Morgenstund',
und, verdrossen von dem Schauspiel, legt' ich mich zurück zur Ruh'.
Denn ich hätte zwei Interessen:
Erstens Schlafen, zweitens Fressen.
Und was sonst schöngeistige Dinge angeht,
wär' ausschliesslich Verdauung
der Kern meiner Weltanschauung,
und der Knochen um den diese Welt sich dreht,
wär' allein meiner Meditationen Grund:
Es gibt Tage, da wünscht' ich, ich wär' mein Hund.

Es gibt Tage, da wünscht' ich, ich wär' mein Hund,
und ich hätte seine keilförmige Nase,
dann erschien' mir die Umwelt vor ganz neuem Hintergrund,
und ich ordnete sie ein in ganz and're Kategorien:
Die, die aufrecht geh'n, die kriechen,
die, die wohl, die übel riechen,
und den Typen, die mir stinken, könnt' ich dann Hose oder Rock zerreissen
und sie in den Hintern beissen,
was ich heut' nur in extremen Fällen kann,
denn ich kenn' meinen zahnärztlichen Befund:
Es gibt Tage, da wünscht' ich, ich wär' mein Hund.

Es gibt Tage, da wünscht' ich, ich wär' mein Hund,
und dann kümmerte mich kein Besuch, kein Klatsch, keine Affär'n,
redete mir nicht mehr Fusseln an den Mund,
um irgendwelchen Strohköpfen irgendetwas zu erklär'n;
Denn anstatt zu diskutieren,
legte ich mich stumm auf ihren Schoss,
und sie kraulten mir zwangsläufig den Bauch.
Und sollt's an der Haustür schellen,
würd' ich hingeh'n, würde bellen,
froh' dass ich niemanden reinzulassen brauch',
und ich sagte: "Tut mir leid, aber zur Stund'
ist der Boss nicht da, und ich bin nur der Hund.

Es gibt Tage, da wünscht' ich, ich wär' mein Hund,
denn mir scheint, dass ich als er beträchtliche Vorteile hätt',
denn ich lebte, wie ich leb', weiter im Grund,
asse zwar unter dem Tisch, doch schlief' ich noch in meinem Bett,
sparte aber ungeheuer,
zahlte nur noch Hundesteuer,
nur in einem bin ich als Mensch besser dran,
darum mag er mich beneiden,
denn ich bin der von uns beiden,
der die Kühlschranktür allein aufmachen kann.
Und das sind Momente, die geniesse ich,
denn ich weiss, dann wünscht' mein Hund, er wäre ich.

(Reinhard Mey)

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